Mit der Axt steht er vor seinem Bett und holt aus. Sein Blick wirkt entschlossen. Denn es ist Zeit – Zeit, einen klaren Strich zu ziehen.

Auf diesen einmal zwei Metern hat er den Großteil seiner Kindheit und Jugend verbracht. Jedes Mal, wenn er am Wochenende keine Lust hatte aufzustehen, ist er einfach liegen geblieben und hat ganze Tage verbummelt. Manchmal ist er auch unter der Woche liegen geblieben – hat seiner Mutter vorgegaukelt, er wäre krank. Sie war gutmütig, also hat sie ihm geglaubt. Ihm sogar Suppe ans Bett gebracht und wenn sie dann arbeiten war, hat er weiter im Bett gelegen und Playstation gespielt. Er hat es sich gemütlich gemacht an einem Ort, der ihm immer schon ein Gefühl von Sicherheit gegeben hat.

Jedes Mal wenn ihn Gedanken quälen, liegt er hier und grübelt. Wie viele Probleme haben sich in diesem Bett niedergelassen? Wie oft hat er hier geheult und seine Fäuste gegen die Wände geschlagen? Wenn gerade eine Liebe zerbrochen war oder er bei all dem Ärger in der Schule nicht mehr wusste, wie es weitergehen soll. Wie oft hat er hier regungslos gelegen und angestrengt gelauscht, um zu verstehen, was seine Eltern sich wieder gegenseitig an den Kopf warfen. Um dann irgendwann unter der Bettdecke zu verschwinden und sich die dicken Daunen über beide Ohren zu pressen, weil er es nicht mehr hören wollte.

Aber wie oft hat er auch gelacht, wenn Freunde zu Besuch waren und sie hier saßen und Späße machten. Sich manchmal gegenseitig mit den verrücktesten Flüchen überhäuften, wenn einer beim Zocken besser war als der andere. Oder wenn er telefonierte und dabei Blödsinn erzählte – wie oft hatte dann schon seine Ma an die Tür geklopft und gefragt, ob alles in Ordnung ist? Wie viele Erinnerungen liegen in diesem Bett? Tausend, hunderttausend, eine Million? Es sind gute und schlechte, aber sie sind zu viele. Er kann sie einfach nicht mehr ertragen.

In diesem Bett hatte er sein erstes Mal. Es war nicht gerade gut gewesen – er hat so vieles falsch gemacht und sich dumm dabei gefühlt. Und doch war es etwas Besonderes, denn es war der Anfang einer ganzen Reihe von wunderschönen Momenten. Oft lag er auch einfach nur da mit ihr. Eng aneinandergekuschelt, denn es gab hier kaum Platz, um sich nicht zu berühren. Er hatte es genossen. Und später hat er dann ins Kissen geweint, als ihm bewusst geworden war, dass es diese Momente nie wieder geben würde. Er hat sich in den Decken und Kissen vergraben und wäre am liebsten einfach verschwunden. Aber er war weiterhin dort, hat seine Flucht in den Federn gesucht und irgendwann wieder Frieden gefunden. Das ist ja das Schöne am Bett: Du legst dich hinein und irgendwann stehst du dann wieder auf und die Welt hat sich ein kleines bisschen verändert. Wenn deine Probleme zu groß sind, musst du einfach nur lange genug liegen bleiben.

Und bald darauf gab es dann auch wieder die schönen Momente. Denn die guten Zeiten gehen manchmal und kommen dann wieder. Die Liebe ist nicht immer unendlich, aber sie verlässt uns niemals ganz. Wir wissen nie, wann sie das nächste Mal um die Ecke schaut. Das vergisst man immer wieder, um irgendwann vollkommen unverhofft daran erinnert zu werden.

In diesem Bett hat er seine Hausaufgaben gemacht. Gegen Mamas Protest, denn das ist ja nicht gut für den Rücken. Es war ihm egal. Und wenn ihn das Nachdenken zu sehr ermüdet hat, dann hat er die Hefte einfach beiseitegeschoben und den Kopf auf das Laken gelegt. Hier hat er immer seine Ruhe gefunden, wenn er sie gebraucht hat. Das Bett war sein Freund. Einer, der immer da ist. Und nun steht er hier und weiß, er muss sich trennen. Weil es Zeit wird.

Er ist kein Kind mehr. Schon lange nicht mehr, denn es ist vieles passiert und anders geworden. Die Welt war einmal unglaublich schwer und dann plötzlich nicht mehr und jetzt wieder. Wie lange hat er darauf gewartet, endlich erwachsen zu werden? Er hat geglaubt, dass dann alles besser wird. Dass all das verschwindet, was ihn früher gequält hat. Doch die Zeit war auch schneller geworden. Und er weiß, dass er immer noch jung ist. Morgen ist er das nicht mehr und er wird an heute denken. Was er dann darüber denken wird, das weiß er nicht. Das wird er schon merken. Über die Zukunft will er sich nicht den Kopf zerbrechen. Auch hier nicht. Denn das ist nun vorbei.

Aber er bringt es einfach nicht übers Herz. So fest hat er sich vorgenommen, einfach auszuholen und zuzuschlagen. Kurzen Prozess zu machen mit der Vergangenheit. Vorbei ist vorbei, so einfach ist das. Und warum sollten wir uns mit alten Erinnerungen quälen? Er mag die vielen guten Momente, an die er sich nun erinnert. Aber was soll er denn damit? Er kann sie sowieso nicht mitnehmen. Denn sie sind nicht mehr da. Sein Blick hat sich verändert und es ist Schluss, sich etwas vorzumachen. Die Welt hat sich weitergedreht. Und erwachsen heißt erwachsen, da gibt es nichts dran zu rütteln.

Stimmen und Gesichter ziehen in seinen Gedanken vorbei. Plötzlich denkt er an all die Menschen, die mit ihm in diesem kleinen Raum waren. Ein Blick reicht, um alles zu sehen. Es ist eine kleine Welt – und doch ist hier unglaublich viel passiert. Eigentlich viel zu viel für einen Kopf. Das wusste er auch schon früher, deswegen hat er all die Gedanken herausgelassen. Ganze Nächte lag er auf der abgewetzten Matratze und hat seine Gefühle in den Stift und durch ihn hindurch auf das Blatt fließen lassen. Heute macht er das nicht mehr, denn es gibt Tastaturen. Er ist jetzt richtiger Schriftsteller oder besser gesagt auf dem besten Wege dorthin. Aber er hat seltsamerweise verlernt, wie man schreibt. Wenn man ihm nun einen Kugelschreiber in die Hand drückt, dann bekommt er seine Unterschrift hin. Aber wenn er einen Text anfängt, dann tut ihm nach einer halben Seite die Hand weh. Er ist es einfach nicht mehr gewohnt. Und so greift er lieber zur Tastatur und tippt, bis sein Kopf für einen kleinen Moment wieder leer ist. So wie er das damals so oft getan hat.

Er weiß, dass die Kiste mit den Texten noch immer unter dem Bett steht. All die Jahre hat er sich nicht getraut, sie anzurühren. Er hat Angst davor, was er lesen könnte. Was er womöglich alles vergessen hat. Die Erinnerung ist gnädig. All die schlimmen Momente wirken rückblickend viel weniger schlimm – denn letztendlich ist es ja noch mal gutgegangen. Und es gibt viele gute Erinnerungen. Die goldenen Zeiten sind in seinem Kopf manchmal mit einem hellleuchtenden Kranz umgeben. Und dann wird ihm wieder bewusst, dass wir die Kindheit nie verstehen können, wenn wir sie einmal verlassen haben. Deswegen ist sie eine so märchenhafte Welt für uns, die immer nur glitzert und glänzt und so viel Schönes zeigt. Oft wünschen wir uns zurück, sehnen uns nach ihr. Aber wenn wir noch einmal dort wären, würden wir uns wahrscheinlich fürchten und davonlaufen wollen. Er weiß es nicht, und doch ist er sich sicher: Er möchte diese Zeit ein für alle Mal hinter sich lassen. Nur muss er dafür endlich zuschlagen. Die vergangenen Zeiten beenden, das Symbol seiner Kindheit und auch der Genügsamkeit zerstören. Lange Zeit war er ein Ruhender. In seiner zwei Quadratmeter großen Komfortzone. Heute ist er ein Laufender. Und alles ist größer geworden. Deshalb ist es auch Zeit für ein größeres Bett. Eines, wo auch Raum bleibt, um sich aus dem Weg zu gehen, wenn es mal sein muss. Und eines, wo man sich ausstrecken kann, ohne ständig irgendwo anzuecken. Wenn man erwachsen ist, muss man in größeren Dimensionen denken und es braucht Taten, um sich den notwendigen Freiraum zu verschaffen.

Und so legt er all seine Kraft in seine Arme und dann lässt er sie niedersausen.

One thought on “Bett & Axt”

  1. Pingback: My Homepage

Comments are closed.